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1. Ein doofer Tag

 

Es war Montag, der 30. Oktober 2000, kurz nach 8 Uhr morgens. Es war der Tag, der mein ganzes Leben komplett verändern würde, aber das wusste ich damals noch nicht. Ich hatte soeben meinen vierjährigen Sohn Max in den Kindergarten gebracht. Nun saß ich mit Kaffee und Müsli in der Küche und blickte zum Fenster hinaus. Es war trüb und grau und regnete leicht. Ein richtiges Novemberwetter. In drei Stunden würde im Festsaal der Universität Wien die akademische Feier zu meinem Studienabschluss stattfinden. In einem feierlichen Akt würde mir mein Magisterdiplom überreicht werden. »Maria, du hast es wirklich geschafft. Du hast mit 38 dein zweites Studium abgeschlossen«, dachte ich so bei mir.

    Eine Stunde vorher sollte ich auf der Uni sein. Daher räumte ich schnell die Küche auf und ging dann ins Schlafzimmer, um mich umzuziehen…… schwarze Hose, schwarzer Blazer, ein rotes T-Shirt, dazu die Perlenkette und die Perlenohrstecker von meiner Großmutter. Ich hatte nicht so viele elegante Sachen zum Anziehen, da ich solche kaum brauchte, aber ich sah trotzdem ganz passabel aus. Ich zog meinen Mantel an und machte mich durch den Nieselregen auf den Weg zur Straßenbahn.

    Bei der Uni angekommen, eilte ich durch den Haupteingang und über die große Treppe zum Festsaal. Es standen schon viele Leute vor dem Eingang des Saals. Ich erspähte meine Mutter. »Mausi, elegant siehst du aus«, meinte sie zur Begrüßung. Ich umarmte sie hastig. »Oh danke! Ich muss jetzt dort hinein, dort gibt es eine Einführung zur akademischen Feier. Wir sehen uns später«, sagte ich und deutete auf die Türe neben dem Festsaaleingang.

    Während ich im Nebenraum zum Festsaal auf das weitere Geschehen wartete, überlegte ich, wer von meinen Verwandten, Bekannten und Freunden heute wohl noch kommen würde. Einer würde jedenfalls – wie schon so oft – durch Abwesenheit glänzen, mein Mann Thomas. Er hatte mir erklärt, er könnte sich nicht einfach so einen Tag freinehmen und von Berlin nach Wien kommen. Wir führten schon seit langer Zeit eine Fernbeziehung und hatten eigentlich nie wirklich zusammengewohnt. Als ich Thomas Anfang 1989 kennengelernt hatte, hatte er noch bei seinen Eltern gewohnt. Ich hatte damals schon meine 100 m2 große Eigentumswohnung gehabt. Er hatte allerdings nicht bei mir einziehen wollen. Dann, als wir gerade ein Jahr zusammen gewesen waren, eröffnete er mir, dass er gerne für ein Jahr nach Deutschland gehen wollen würde, um dort als Konstrukteur in der Luftfahrtindustrie zu arbeiten. Das hätte er immer schon wollen, aber in Wien keinen entsprechenden Job finden können. Jetzt hätte er ein konkretes Angebot in München. Wir hätten dann halt für ein Jahr eine Wochenendbeziehung. Ich war einverstanden gewesen. Aus einem Jahr wurden eineinhalb. Als wir Mitte 1991 geheiratet hatten, hatte er gemeint, er würde gerne noch länger in Deutschland arbeiten, er hätte jetzt einen Job in Hamburg in Aussicht. Er hatte aber versprochen, wieder ganz nach Wien zu ziehen, wenn wir ein Kind bekommen würden. Max wurde 1996 geboren. Mittlerweile hatten wir Ende 2000 und Thomas war immer noch in Deutschland, jetzt in Berlin. Dazwischen wechselte er gefühlt alle sechs Monate den Standort. Anfangs war Thomas noch jedes Wochenende nach Wien gekommen, dann wurden daraus zwei Wochen, drei Wochen, ein Monat. Dieses Jahr schließlich war er überhaupt erst zweimal da gewesen. Er erklärte, er könnte es sich im Moment aus finanziellen Gründen nicht leisten, öfter nach Wien zu kommen. Es würde aber bald alles anders werden – wieder so ein Versprechen.

    So, jetzt sollte ich mich wohl besser wieder auf die Gegenwart und die gleich startende akademische Feier konzentrieren, anstatt trüben Gedanken nachzuhängen. Die Einführung zum Ablauf der Feier begann. Kurz darauf startete dann die Zeremonie. Es wurde »Gaudeamus igitur« gespielt, als wir in den Festsaal einzogen und uns dort vor den Sitzreihen aufstellten. Dann hielten Universitätsrektor, Dekan und Promotor jeweils eine Rede. Schließlich wurde jeder von uns einzeln mit Namen aufgerufen, musste der Universität mit »Ich gelobe« die Treue versprechen und erhielt dann die Rolle mit seiner Magister-urkunde. Zum Abschluss wurde die österreichische Bundeshymne gespielt.

    Nach Ende der Feier blickte ich suchend ins Publikum, konnte aber außer meiner Mutter niemanden bekannten entdecken. Das konnte doch nicht sein. War sonst wirklich keiner gekommen? Einige hatten abgesagt, weil sie krank waren oder arbeiten mussten, aber wo war der Rest? Wo waren denn meine Uni-Kollegen, die mich dazu überredet hatten, an der akademischen Feier teilzunehmen? Wo waren alle anderen? Keiner da! Ich hätte mir das ganze Theater, Zeit und Geld sparen können. Ich hatte das ja alles schon mal zum Abschluss meines ersten Studiums mitgemacht. Ich war enttäuscht. Alles war ganz anders gelaufen, als ich es mir vorgestellt hatte. Ein zweites Studium abzuschließen war doch etwas Besonderes, das machte man doch nicht jeden Tag. Meine Umgebung sah das wohl anders.

    Ich verließ die Universität zusammen mit meiner Mutter und begleitete sie noch zur Straßenbahnhaltestelle. Sie musste nach Hause, um sich um meinen nach einem Schlaganfall pflegebedürftigen Vater zu kümmern. Es hatte aufgehört zu nieseln, also beschloss ich zu Fuß heim zu gehen. Vielleicht würden ja die Bewegung und die frische Luft meinen Frust beseitigen. Mit meiner Dokumentenrolle in der Hand marschierte ich los. Schon nach ein paar Minuten spürte ich, dass mein rechter Schuh auf der Ferse drückte und scheuerte. Na toll, auch das noch. Nach einer halben Stunde gehen zu Hause angekommen zog ich meine Schuhe aus und bemerkte auf der rechten Ferse eine große Blase. Und auch meine Enttäuschung war nicht verflogen.

    Mittlerweile war es 13 Uhr. Ich warf mich in Jogginghose und T-Shirt und hockte mich mit einem Joghurt vor den Fernseher. Vielleicht würde ja das helfen. Es liefen aber auf allen Sendern irgendwelche Talkshows, die mich allesamt nicht interessierten. Ich drehte den Fernseher wieder ab und beschloss mein Magisterdiplom einzurahmen und aufzuhängen. Einen großen Glasrahmen dafür hatte ich schon vor ein paar Tagen besorgt. Nachdem ich die Urkunde in den Rahmen getan hatte, hängte ich diesen neben meinem ersten Diplom an die Wand. Als ich die beiden Diplome so nebeneinander betrachtete, überkam mich kurz ein Gefühl von Stolz und Freude. Leider hielt das nicht sehr lange an.

    Es war Zeit, Max vom Kindergarten abzuholen. Ich zog meinen Mantel an und ging den kurzen Weg dorthin. Wahrscheinlich erschien es mir nur aufgrund meiner miesen Laune so, aber Max brauchte ewig, bis er sich die Schuhe angezogen hatte. Ich musste mich sehr zurückhalten ihn nicht anzufahren, aber er war ja nicht schuld an meiner schlechten Stimmung.

    Endlich aus dem Kindergarten draußen, sah ich, dass es wieder zu regnen begonnen hatte. Wir konnten somit nicht auf den Spielplatz gehen. Also musste ich Max daheim beschäftigen. Was für ein doofer Tag. Zuerst spielten wir mit der Holzeisenbahn, dann »Mensch ärgere dich nicht«, und danach bastelten wir Scherenschnitte. Schließlich wollte Max »Meister Eder und sein Pumuckl« auf Video schauen. Ich hatte ihm ein paar Folgen mit dem Videorekorder aufgenommen. Man soll ja Kinder nicht zu lange vor dem Fernseher sitzen lassen, aber heute lagen meine Nerven blank und ich warf daher alle meine guten Vorsätze über Bord. Ich wusste, er würde sich jetzt jede Folge dreimal anschauen wollen und wäre damit bis zum Abendessen beschäftigt.

 

 

 

2. Hinter Gittern

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Es war 20 Uhr vorbei und Max endlich im Bett. Ich schaltete den Fernseher ein, um mir eine neue Folge von »Hinter Gittern – der Frauenknast« anzuschauen. Ich war beim Herumzappen vor ein paar Wochen zufällig auf diese Serie gestoßen und dabei hängen geblieben. Es war dies eine deutsche Fernsehserie rund um die lesbische Insassin Christine Walter, von allen Walter genannt, in einem fiktiven deutschen Frauen-gefängnis, die jeden Montag auf RTL lief.

    Die Folge startete, aber ich war zunächst nicht so recht bei der Sache, da ich auf einen Anruf von Thomas wartete. Wenn er anrief, dann normalerweise immer so gegen 20 Uhr. Mittlerweile war es schon 20:45 Uhr. Das würde wohl heute nichts mehr werden. Echt toll, nicht einmal das machte er. Ich war traurig und enttäuscht, wie schon den ganzen Tag. Um mich abzulenken, konzentrierte ich mich wieder auf »Hinter Gittern«, und plötzlich wurde es dort sehr spannend. Es kam zu einer Liebesszene zwischen Walter und der Wärterin Bea. Fast atemlos verfolgte ich, was sich da zwischen den beiden Frauen abspielte. Der dazu gespielte Song tat das Seinige. Es machte sich ein ganz komisches Gefühl in meiner Magengegend breit. Was war das? Ich konnte es nicht wirklich einordnen. Plötzlich liefen mir die Tränen über die Wangen, ich war total aufgelöst. Was war bloß los mit mir? Warum berührte mich das so?

    Als die Folge zu Ende war, saß ich immer noch völlig aufgelöst da. An schlafen gehen war nicht zu denken, also beschloss ich mich noch an den Computer zu setzen. Ich suchte im Internet nach »Hinter Gittern« und stieß dabei auf eine Seite von Katy Karrenbauer, der Darstellerin von Walter in der Serie. Ich schaute mich auf der Seite um und entdeckte ein Gästebuch. Dort konnte man Kommentare hinterlassen. Neugierig las ich die Einträge durch. Und dann beschloss ich, auch etwas dort hinein-zuschreiben.

 

»Hallo Katy!

Ich bin zwar schon ein älteres Semester, nämlich Jahrgang 62 wie du, aber trotzdem ein großer Fan von Hinter Gittern. Liebe Grüße aus Wien, Maria«,

 

tippte ich mit leicht zittrigen Händen in das Textfeld. Ich war aufgeregt, schließlich hatte ich so etwas vorher noch nie gemacht. Ich starrte den Text eine Weile an, unsicher, ob ich das auch wirklich abschicken sollte. Doch dann dachte ich, warum nicht und klickte auf »Posten«. Ich hatte es getan, ich hatte mich wirklich in Katy Karrenbauers Gästebuch verewigt. Gleich darauf bemerkte ich allerdings, dass ich offenbar versehentlich meine E-Mail-Adresse mitgepostet hatte. Diese musste man nämlich angeben, bevor man sich im Gästebuch eintragen konnte. Mist, was sollte ich jetzt machen? Den Eintrag wieder löschen? Ich klickte herum, fand aber irgendwie keine Möglichkeit, das Posting zu entfernen. Nun gut, es war passiert und ich konnte es wie es schien nicht mehr ändern. Dass dieses Versehen noch weitreichende Folgen für mein weiteres Leben haben würde, ahnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

    Mich in Katy Karrenbauers Gästebuch zu verewigen war nicht das Einzige, was ich an diesem Abend am Computer tat. Ich suchte auch noch nach »lesbische Liebe«. Diese Liebesszene zwischen den beiden Frauen hatte irgendetwas in mir ausgelöst. Irgendetwas, das ich nicht genau benennen konnte, reizte mich unheimlich an diesem Thema. Bei meiner Suche fand ich eine sehr interessante Webseite dazu, nämlich »lesbianonly.com«. Dort gab es ein Forum mit vielen spannenden Postings, eine Partnerbörse und Links zu anderen Webseiten für Lesben. Auch Grußkarten mit erotischen Frauenmotiven konnte man verschicken. Ich las und las und plötzlich war es fast 1 Uhr.

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